Full circle – mein Leben mit Mercy Ships

Ein Interview mit Kim Anna Kronester

Die Hospitalschiffe als persönlicher Heimathafen: Eine Kindheit lang an Bord und nun als junge Krankenschwester zurück an Deck. Kim Anna Kronester über Ihre unvergleichliche Lebensreise im Interview.

Mit gerade mal zwei Jahren zog die heute 31-jährige Kim Anna Kronester mit ihren Eltern in die USA, die sich dort auf einen Einsatz mit Mercy Ships vorbereiteten. Ihre Kindheit verbrachte sie zwischen den Kontinenten und fast immer auf einem Hospitalschiff von Mercy Ships. Im September 2024 kehrte sie als ausgebildete Krankenschwester zurück an Bord – jedoch diesmal auf die Global Mercy. Es ist eine der spannendsten und inspirierendsten Geschichten, die wir jemals von unserer ehrenamtlichen Crew bei Mercy Ships Deutschland erzählen konnten. Ein Interview über eine bemerkenswerte und einzigartige Lebensreise, über Heimat, Freundschaft und die Sehnsucht, Spuren in der Welt zu hinterlassen.

Liebe Kim Anna, Deine Verbindung zu Mercy Ships ist wirklich sehr besonders. Man könnte fast sagen, Du hast Mercy Ships im Blut, denn Du bist gewissermaßen inmitten der Organisation aufgewachsen. Wie genau kann ich mir diese außergewöhnliche Kindheit vorstellen?

Ich war zwei Jahre alt, als meine Eltern Deutschland verlassen haben, um in Texas das damalige Missions-Einsteigertraining von Mercy Ships zu absolvieren. Zu diesem Zeitpunkt habe ich nur ein paar wenige Worte Deutsch gesprochen. Es dauerte nicht lange und ich antwortete meinen Eltern auf Englisch – auch wenn sie sich noch so viel Mühe gaben mir Deutsch beizubringen (lacht).

Meine Kindheit verbrachte ich auf drei verschiedenen Schiffen von Mercy Ships – der Caribbean Mercy, der Anastasis und der Africa Mercy. Über die Jahre lebten wir in den Regionen Mittelamerika und Westafrika. Ich ging – mit ein paar Unterbrechungen – vom Kindergarten bis zu meinem Schulabschluss – auf den Schiffen zur Schule. Durch die regelmäßig wechselnden Einsatzorte entdeckte ich ständig neue Länder, Menschen und Kulturen. Diese Vielfalt zu erleben war ungemein bereichernd. Auch heute liebe ich es noch immer, in fremde Kulturen einzutauchen.

Ist es nicht total langweilig als Kind auf so einem Schiff?

Ein klares JEIN (lacht)! Als Teenager haben wir uns tatsächlich immer wieder beschwert, wie langweilig es sei. Einmal im Jahr waren wir jedoch für rund zwei Monate auf den kanarischen Inseln und haben das entsprechend gefeiert: Endlich mal shoppen, ins Kino oder Bowlen gehen. Es war, als stünde uns die Welt offen – auf einmal hatten wir so viel Freiheit.

Aber um ehrlich zu sein wird alles langweilig, was man zu oft macht. Irgendwo in einem Einkaufszentrum abhängen und zum x-ten Mal bei McDonalds einen McSundae bestellen, war wohl doch nicht das aller coolste der Welt. Auf dem Schiff haben wir hingegen immer wieder tolle Events und Aktivitäten organisiert. Dadurch, dass alle immer am gleichen Ort waren und sich nicht irgendwo anders verabreden konnten, waren auch immer alle dabei. Wir hatten ein jährliches Film-Festival, es gab Kochwettbewerbe und Spieleabende. Die Schule organisierte einmal pro Woche den sogenannten „Running Club”, bei dem alle Kids auf dem Dock joggen gingen. Ich erinnere mich gerne an Tagesausflüge mit unseren Rettungsbooten auf umliegende Inseln, Camping am Strand, Übernachtung an Deck mit Meteorregen. Das war aufregend und ungemein abwechslungsreich. An den Wochenenden konnte ich oftmals – vor allem in den Jahren in Westafrika – meine Mutter und Teams von Mercy Ships bei Besuchen in umliegende Kinderheime begleiten. Aber ja, manchmal gab es ihn schon: den Lagerkoller – einfach durch die eingeschränkte Bewegungsfreiheit.

„ Ich erinnere mich gerne an Tagesausflüge mit unseren Rettungsbooten auf umliegende Inseln, Camping am Strand, Übernachtung an Deck mit Meteorregen. Das war aufregend und ungemein abwechslungsreich. An den Wochenenden konnte ich oftmals – vor allem in den Jahren in Westafrika – meine Mutter und Teams von Mercy Ships bei Besuchen in umliegende Kinderheime begleiten. “
 Kim Anna Kronester 

Und der normale Alltag? War es für Dich schwierig Freunde zu finden?

Es gab eine kleine Schule. Wir waren zu viert in einer Klasse. Der Unterricht ging meist bis 16 Uhr. Mittagspause hatten wir alle gemeinsam mit der Crew und unseren Familien im Speisesaal. Den Nachmittag und Abend verbrachten wir oft auf dem Dock oder auf dem Spielplatz an Bord. Meine Freunde konnte ich mir eigentlich nicht aussuchen. An dem einen Tag hat man sich zerstritten und am nächsten Tag war man wieder ein Herz und eine Seele. Freunde ähnelten in dieser Hinsicht eher Geschwistern. Man konnte sie sich, wie gesagt, nicht aussuchen. Aber wir haben das Leben miteinander geteilt, sind gemeinsam zur Schule gegangen. Hatten uns als Nachbarn eine Kabine weiter. Meine Freunde kamen aus allen möglichen Ländern. Eine Mischung aus dutzenden Kulturen, die in unserer christlichen Gemeinschaft miteinander verschmolzen und eine ganz eigene, neue Kultur bildeten. Freundschaften hatten hier sehr schnell Tiefgang – das war vollkommen anders als dann in Deutschland.
„Meine Freunde kamen aus allen möglichen Ländern. Eine Mischung aus dutzenden Kulturen, die in unserer christlichen Gemeinschaft miteinander verschmolzen und eine ganz eigene, neue Kultur bildeten.“
 Kim Anna Kronester 

In welchem Alter bist Du nach Deutschland zurückgekehrt? War es schwierig hier „anzukommen“?

Tatsächlich sind wir immer mal wieder zum Heimaturlaub nach Deutschland gekommen. Als ich jedoch mitten in der dritten Klasse war, zogen wir für zwei Jahre zurück in die alte „Heimat”. Das war eine sehr herausfordernde Zeit. Ich konnte nur schlechtes, umgangssprachliches Deutsch und musste im laufenden Schuljahr auf eine Grundschule. Dort lernte ich plötzlich deutsche Grammatik, musste Diktate und Aufsätze schreiben. Meine Lehrerin habe ich mehrmals geduzt, weil es im Englischen ja kein förmliches „Sie” gibt (lacht). Außerdem konnte ich endlich viel Zeit mit meinen Großeltern verbringen, die ich bislang kaum kannte. Im Nachhinein bin ich sehr dankbar für diese Zeit. Ohne sie könnte ich mich heute wahrscheinlich kaum auf Deutsch verständigen. 

Das nächste Mal kam ich dann mit 17 Jahren zurück nach Deutschland. Ich wollte eine Ausbildung in der Krankenpflege machen und dann so schnell wie möglich in die medizinische Mission – wieder hinaus in die Welt. Dafür schlug mein Herz, es war Teil meiner Identität, mein Zuhause. Ich wollte also nicht lange in Deutschland bleiben. Es war vielmehr ein Gefühl von „Augen zu und durch“. Obwohl ich so offen für andere Kulturen war, mit der deutschen Kultur habe ich mich nie richtig verbunden gefühlt. Trotzdem habe ich in den sechs Jahren in Deutschland meine ursprünglichen Wurzeln kennen und lieben gelernt. Und auch Gott hat mir in dieser Zeit eine völlig neue Perspektive auf dieses Land geschenkt.

Deine Frage nach dem „Ankommen“ kann ich am besten anhand ein paar lustiger Anekdoten beschreiben. In meinem Vorstellungsgespräch zu meiner Ausbildung erklärte ich beispielsweise auf die Frage nach meinen Schwächen, dass ich mich überhaupt nicht mit dem öffentlichen Verkehrssystem auskennen würde. Tatsächlich machte mir das wirklich Angst. Und dann war ich zu meiner Ausbildung auch noch im tiefsten Bayern gelandet – bis ich endlich halbwegs den urbayrischen Dialekt meiner Patienten verstehen konnte, war es ein weiter und mühsamer Weg.

Wie schaust Du heute als Erwachsene auf Deine Kindheit auf dem Schiff? In welcher Hinsicht hat diese Zeit Dein Leben und Deinen heutigen Charakter geprägt?

Ich bin zutiefst dankbar für diese Zeit, natürlich war sie prägend für meinen heutigen Charakter. Ich habe ein Gespür für die Not, habe den Drang Menschen zu helfen, wo ich kann. Dieser ständige Blick über den eigenen Tellerrand, lässt mich heute fremde Kulturen besser verstehen, ohne gleich zu werten – im Gegenteil, ich feiere die Unterschiedlichkeit der Menschen, bin selbst anpassungsfähig, habe weniger Vorurteile und es hat mich seitdem immer wieder ins Ausland gezogen. Natürlich durfte ich bei alldem Gott als Tröster und Versorger kennenlernen.

Wie hast Du es als Kind erlebt mit humanitärer Hilfe, Ungleichheit, Armut und schweren gesundheitlichen Schicksalen so unmittelbar konfrontiert zu sein?

Als Kind habe ich vieles hingenommen, wie es war. Insgesamt hat mich dieses sehr besondere Umfeld aber dennoch sehr stark geprägt. Auch wenn man als Kind nicht alles versteht – ich habe beispielsweise sehr wohl beobachtet und verstanden, welche außergewöhnliche Freude die Menschen, trotz ihrer Armut, ausstrahlten. Ihr großes Vertrauen und ihre Hingabe zu Gott haben mich nachhaltig beeindruckt. Sie waren mit viel weniger zufrieden als ich. Sie waren dankbarer und haben kaum gemeckert.

Als ich etwa fünf Jahre alt war, lebten wir einige Zeit in Guatemala. Ich habe noch genau den Tag vor Augen, an dem wir dort Familien besuchten und ihnen Päckchen mit Grundnahrungsmitteln schenkten. Da habe ich Armut – auch bei Kindern in meinem Alter – auf engstem Raum in Einzimmerwohnungen erlebt und ein Stück weit verstehen gelernt. Im Jugendalter ist mir das Privileg in Deutschland geboren zu sein, dann viel stärker ins Bewusstsein gerückt. Ich habe es sehr geschätzt, auf dem Schiff alles an Komfort, Hygienestandards, und Versorgung zu haben, was ich brauchte.

Hättest Du Dir manchmal eine „normalere“ Kindheit gewünscht?

Ja, manchmal schon. Es war hart, sich immer wieder von Freunden verabschieden zu müssen. Wieder und wieder neu anzukommen, sich zu integrieren. Ja, ich habe mir so manches Mal vorgestellt, wie es sein würde, immer auf dieselbe Schule zu gehen und dieselben Freunde zu haben. Meine Großeltern jeden Sommer zu besuchen und immer auf dem neusten Stand der Trends und Musik zu sein. Und gleichzeitig klang das alles irgendwie sehr langweilig. Ich glaube, deshalb habe ich es mir auch nie so richtig von Herzen gewünscht.

Heute bist Du Krankenschwester und wirst im September auf der Global Mercy in Sierra Leone ehrenamtlich im Dienst sein – war das schon immer Dein Plan, einen medizinischen Beruf zu ergreifen, um eines Tages ehrenamtlich auf einem Schiff von Mercy Ships zu arbeiten?

Regelmäßig habe ich die Möglichkeit auf den Schiffen genutzt, Patienten auf der Krankenstation zu besuchen. Besonders erinnere ich mich an die 14-jährige Esther, die mit schweren Kontrakturen und Verbrennungen an der Hand, drei Monate zur Behandlung an Bord war. Sie habe ich fast täglich besucht. Diese Erfahrungen mit den Patienten waren mitunter der Grund, dass ich mit 14 Jahren mein erstes Schulpraktikum auf der Krankenstation der Anastasis machte. Am Ende des einwöchigen Praktikums war für mich klar: Ich möchte auch Krankenschwester werden und eines Tages Menschen, die keinen Zugang zu guter medizinischer Versorgung haben, helfen. Es musste nicht zwingend mit Mercy Ships sein, aber so etwas in der Art war immer mein Plan. Und heute gehe ich tatsächlich nach vielen Jahren zurück auf ein Hospitalschiff, um als ausgebildete Krankenschwester Kinder in Afrika zu behandeln. Ich bin sehr dankbar für diese Möglichkeit. Es ist wirklich ein lang ersehnter Traum, der nun wahr wird.

Welches Gefühl begleitet Dich, wenn Du mit der Reise nach Sierra Leone auch in gewisser Hinsicht wieder in Deine Kindheit zurückkehrst?

Ich habe auf drei Schiffen von Mercy Ships gelebt, zuletzt auf der Africa Mercy meinen Schulabschluss gemacht. Die Jahre sind noch sehr präsent und ich habe viele Erinnerungen. Ich glaube, ich darf mich darauf einstellen, dass es anders werden wird, denn die Global Mercy ist schon allein wegen ihrer Größe einmalig. Meine ersten Tage auf diesem für mich neuen Schiff werden ganz bestimmt trotzdem von vielen nostalgischen Gefühlen geprägt sein. Ich freue mich darauf, diese Kindheitserinnerungen ein Stück weit wieder aufleben zu lassen und dann aber auch abzuschließen. Vor allem freue ich mich sehr auf die vielen neuen Erlebnisse und Menschen, denen ich begegnen werde. Ich hoffe, dass jedes Essen im Speisesaal, jede Behandlung meiner kleinen Patientinnen und Patienten, jede Andacht vor der Arbeit, jeder Spieleabend, jede Interaktion mit meinen Mitmenschen, sich so anfühlen werden, dass meine Kindheitserlebnisse und meine jetzigen Erfahrungen als Erwachsene und gelernte Krankenschwester miteinander vereint werden.

Vielen herzlichen Dank, Kim Anna, für diese unglaublich interessanten Einblicke in Dein Leben. Ich wünsche Dir alles Gute und Gottes reichen Segen für Deinen Einsatz an Bord der Global Mercy und bin schon sehr gespannt auf das, was Du uns von dort berichten wirst.

Werden auch Sie Teil unserer ehrenamtlichen Crew!

Menschen wie Kim Anna sind Herz und Motor von Mercy Ships. An Bord unserer Hospitalschiffe werden nicht nur ehrenamtliche Fachkräfte im medizinischen Bereich gesucht. Von der Kantine bis zum Kapitän sind vielfältigste Berufsfelder gefragt und für den zuverlässigen Betrieb der Schiffe unabdingbar. Nur gemeinsam als Team wird ein Hilfseinsatz zum Erfolg – nur zusammen können wir Hoffnung und Heilung zu den Ärmsten der Armen bringen.

Sie haben Interesse an einer ehrenamtlichen Tätigkeit an Bord?

Wir stehen Ihnen für alle Ihre Fragen gerne telefonisch unter 0 8191 98550-14 zur Verfügung. Mehr zu unseren Stellenangeboten finden Sie hier.

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Dominic Pithan

interviewte Kim Anna über ihre Kindheit und ihren Einsatz auf der Global Mercy.

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